Das Ende des arabischen Traums? - Ehemaliger ZDF-Korrespondent Dietmar Ossenberg berichtete in Waltrop
(v.r.:), Marianne Kappelhoff, Detlef Pflaumenbaum, Anne Krause, Pfarrer Ulrich Lammers, Dietmar Ossenberg, Michael-Clemens Schmale (Leiter der VHS)
WALTROP – Es sei für ihn eine sentimental journey, bekannte der im Jahr 1950 in Recklinghausen geborene und in Rheine zur Schule gegangene ehemalige ZDF-Korrespondent und Autor Dietmar Ossenberg zu Beginn seines Vortrages im Waltroper Freitagsforum. Er kenne auch das Henrichenburger Schiffshebewerk in der Nähe von früher. „Es ist ein sehr schönes Stück Deutschland hier“. Er habe großen Respekt vor den vielen Leuten, die in der Flüchtlingshilfe engagiert sind. Ihm seien die Probleme und die harten Diskussionen darum bekannt. Er kenne aber auch die andere Seite.
Von der arabischen Welt zeichnete Ossenberg, der zeitweise privat in Kairo lebt, ein düsteres, deprimierendes Bild. Diese „prächtige Kulturlandschaft“ befände sich kurz vor ihrer Auflösung - mit unabsehbaren Folgen für Europa und auch Deutschland. Er berichtete von Aleppo, das inzwischen aus den Schlagzeilen ist, von Bekatal, der syrischen Kornkammer, in der die Hisbollah Haschisch anbaut und Polizei und Militär die Drogenbauern beschützt. Vom Libanon, der mit den 1,6 Millionen Flüchtlingen ein sehr gutes Geschäft macht, von Familien in Wellblechhütten, für die der Staat im Monat 200 Dollar für die Pacht verlangt, von Kindern, die in Rauschgiftplantagen arbeiten, von Töchtern die sich prostituieren und von Söhnen, die als Kämpfer ausgebildet werden.
Von arabischer Solidarität gegenüber den Flüchtlingen sei nichts zu sehen, sagte Ossenberg, Saudi-Arabien und Dubai hätten keinen einzigen Flüchtling aufgenommen. Es sei einfach ein gutes Geschäft für korrupte Regierungen. Im Irak kämpften Sunniten um Öl, der Jemen versinke im Chaos, der Libanon stehe „auf der Kippe“, der Assad-Clan werde große Teile des Landes weiter beherrschen.
Auch Ägypten, lange Zeit ein Hort der Stabilität, habe sich unter den Muslimbrüdern dramatisch verändert: Armut, Bildungsnotstand, Polizeiterror und allumfassende Korruption prägten das Leben. Mohammed Mursi wolle das Land islamisieren und habe die neuen Geschichtsbücher, aus denen Ramses und Tut-ench-Amun gestrichen seien, bereits in Druck gegeben. Noch nie seien ägyptische Gefängnisse so voll gewesen. Hunderte Websites wurden gesperrt. Es werde neuer Hass und neuer Terror gezüchtet. Sein ägyptischer Kameramann sei in Tränen ausgebrochen: „Ägypten wird wie Afghanistan!“
„Wir im Westen“ flüchteten uns angesichts der realen Gefahr, dass durch demokratische Wahlen Islamisten an die Macht kommen, zunehmend in Konjunktive, konstatierte Ossenberg. Amerika liefere Waffen in Milliardenhöhe, Trump begründe dies mit dem Kampf gegen den Terror. Doch „wir“ dürften nicht die Augen vor den Realitäten verschließen, dass im Namen des Koran und des Propheten Mohammed die Kriege geführt würden. „Wir sind dieser Diskussion in Deutschland nicht gewachsen“, sagte Ossenberg.
Auch die islamische Welt käme mit der Frage, ob der Islam nun eine friedfertige Religion sei, nicht zurecht. Die Schiiten, die sich auf die Blutlinie Alis, des Cousins von Mohammed, berufen, gehörten aus Sicht der Sunniten, der zweitgrößten Konfession des Islam, zu den Ungläubigen,. Das Wahhabitische System nehme für sich in Anspruch, den Koran richtig auszulegen, es biete für vieles, ja sogar für alles Interpretationsmöglichkeiten. Der Islam befinde sich in einer Legitimationskrise angesichts der Grundsatzfrage, ob diese Religion für das Leben oder für das Töten stehe, bilanzierte Ossenberg. Doch mit Religion habe das alles nichts zu tun: schon der 30jährige Krieg habe gezeigt, dass es darum ging, sehr weltliche Interessen durchzusetzen. „Dabei geht es um Macht und so viel Geld, dass es unser Vorstellungsvermögen sprengt.“
Der Orient kranke an den Folgen des Missbrauchs der Religion, der dem Menschen jede Orientierung raube und unter einer Korruption und Erpressung, die alle demokratischen Strukturen auf den Kopf stelle. In Syrien habe der Assad-Clan alle Geschäftsbereiche unter Kontrolle, im Libanen die Clanführer, die sogar über Hochzeiten entschieden.
Was er vor drei Jahren in der südjemenitischen Stadt Aden nachts um drei gesehen habe, gehöre mit zum Absurdesten, was er bisher erlebt habe, so Ossenberg: „Laute Diskomusik, Wodkaflaschen auf den Tischen, viele junge Damen, es wurde getanzt und gelacht. Alle jungen Frauen trugen Schleier und schwarze Handschuhe und verdingten sich als Prostituierte. Videoaufnahmen wurden verhindert, damit die Doppelmoral und Heuchelei nicht publik wird. Prinzen schmuggeln teuren Whiskey aus Europa. Um die Bigotterie zu verdecken, zahlt man Schutzgelder an paramilitärische Einheiten, die das Ganze in Gang halten - eine Steilvorlage für die Islamisten.“
Auf der Ebene der Hochkultur sei der Zerfall des Orients ebenfalls deutlich zu spüren, erzählte Ossenberg. „Von Zeit zu Zeit gehe ich ins Opernhaus von Kairo. Dort habe ich auch eine Aufführung der ‚Lustigen Witwe‘ gesehen. Und auch das Ballett ‚Al Andalus‘ über das Ende des Kalifats 1492. Die Vertreibung der Muslime aus Spanien ist in unserem Geschichtsbuch so gut wie nicht vorhanden. Für die arabische Welt steht dies aber dafür, welche exponierte Rolle die arabische Kultur in Europa hatte, nämlich den arabischen Traum von Andalusien.“
Schuld am Niedergang der arabischen Kultur sei in erster Linie der eigene Verrat an den ursprünglichen islamischen Werten, sagte Ossenberg. Die ungläubige Kultur der westlichen Welt bilde weiterhin die Mustervorlage für den Islamismus. Der Islamische Staat (IS) sei bis heute nicht nur eine Terrormiliz, sondern eine hochkomplexe, militärisch geführte Formation, für die die gesamte sunnitische Gesellschaft in den Untergrund gegangen sei. Die älteste Tochter Saddam Husseins Raghad finanziere von ihrem Exil in Jordanien aus den IS, sie habe mit Religion nichts am Hut. Der IS bekämpfe die gemäßigten Rebellen, die Hussein fürchtete, nach dem bekannten Grundsatz Napoleons: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“
Die Idee des amerikanischen Außenministers, den Islamismus als Waffe gegen den Sozialismus einzusetzen, habe die Auflösungsprozesse verstärkt. „Was hatte der amerikanische Präsident Obama in Kairo nicht alles versprochen, welche Hoffnung hat er geweckt - und was ist daraus geworden?“, fragte Ossenberg. Der Westen habe die arabische Welt mit Waffen überschwemmt. Allein Deutschland habe in den Jahren zwischen 2001 und 2015 Waffen im Wert von rund 15 Milliarden Euro exportiert, dafür seien Tausende Jobs geschaffen worden.
Für die Auflösung der arabischen Welt seien die arabischen Regime zum großen Teil mit verantwortlich. Das Schicksal des Einzelnen gelte den Mächtigen dort fast nichts. Die jungen Leute, speziell auch die gut ausgebildeten, fänden keine Jobs. Am Beispiel des Tahir-Platzes in Kairo, einst Symbol für Freiheit und Demokratie, nach den jüngsten Massenvergewaltigungen aber nun ein Ort des Schreckens, erklärte Ossenberg: „Fast an jeder Ecke gibt es dort ein Erotik-Geschäft. Diese scheinbare sexuelle Freizügigkeit gilt aber nur für Verheiratete. Vor der Heirat haben junge Leute keine Chance, eigene Kontakte aufnehmen zu können.“
Wie hier sei es im Grunde auch in den meisten arabischen Ländern, stellte Ossenberg fest, in denen die Menschen Zukunftsperspektiven vermissten, weil die Mächtigen es versäumt hätten, einen Übergang zur modernen Welt zu schaffen. Würden heute die europäischen Grenzen geöffnet, würden viele Menschen sofort ihr Land verlassen wegen der offenen Kultur.
Die anschließende Diskussion im Haus der Begegnung zeigte, dass Ossenbergs Thema nicht nur einige vor Ort Kundige und darüber hinaus politisch hoch Interessierte im Publikum ansprach. Seine grundlegend pessimistische Sicht über die Entwicklung im Orient wollten allerdings nicht alle teilen, ihnen entgegnete er: „Ich finde es unfair, mit einem Schimmer Hoffnung die Leute nach so einem Vortrag zu entlassen."
Allerdings auch mit Ausnahmen: In Syrien etwa sehe er inzwischen Potential, dieses Land wieder aufzubauen. Doch insgesamt bliebe nur eines: die humanitäre Unterstützung in der Not. Die Deutsche Entwicklungshilfe leiste hier einen faszinierenden, unerlässlichen Beitrag, den angesichts der Größenordnung niemand sonst leisten könne.
Angesichts all des erlebten Elends und Verfalls zeigte sich im persönlichen Abschlussvotum Ossenbergs dann doch noch so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer, der sich an der Frage entzündete, warum er denn eigentlich immer noch in Kairo wohne: „Ich lebe dort, weil das für mich Faszinierende dort ist, wie die Menschen mit den Problemen umgehen. Teilweise mit einem riesigen Humor und einer Warmherzigkeit gegenüber Fremden, dass ich dort manchmal ein intensiveres Leben lebe als hier in Deutschland. Die Menschen dort können nicht trennen zwischen arm und reich, Tod und Leben. Es sind die Menschen, die mein Leben reicher machen.“ GH