Experten meinen: "Chancen und Risiken der Digitalisierung halten sich die Waage"
(v.l.) Eva-Maria Wobbe (StartCenter Kreis RE), Dominik Schad (Jobcenter Kreis RE), Dr. Hans Hubbertz (Ev. Kirchenkreis), Michaela Evans (Institut IAT, GE), Hermann Hönscheidt (KAB), Achim Vanselow (DGB) und Julia Borries (Ev. EB). Foto: tk
Recklinghausen - „Von der Dampfmaschine über das Fließband und die Datenverarbeitung per Computer bis hin zum Internet haben die Schritte der technischen Revolution stets Ängste und Hoffnungen ausgelöst“, erinnerte einleitend der KAB-Diözesansekretär Hermann Hölscheidt an die stetig fortschreitende technische Revolution: „Jeder Fortschritt musste erkämpft und jede Errungenschaft verteidigt werden“. Die Anforderungen seien immer die gleichen und Arbeitswelt, Politik und Gesellschaft seien gleichermaßen gefordert: „Der Prozess muss von Menschen für Menschen gestaltet und begleitet werden,“ so sein Credo aus der katholischen Soziallehre, denn es gehe um ein sinnvolles Leben.
Freiberufler in Heimarbeit am PC
Eva-Maria Wobbe vom Startercenter des Kreises Recklinghausen, die als Gründungsberaterin auch innovative Start-up-Unternehmen berät und begleitet, verwies auf den ungeheuer rasanten Wandel in der vom digitalen Internet-Netzwerk geprägten Heimarbeitswelt: „Bei dem neuen freiberuflichen Tätigkeitsfeld der so genannten Click-Worker auf diversen Plattformen mit oft unbekannten Betreibern ist kaum noch feststellbar, wer ist Arbeitgeber und wer ist Arbeitnehmer und wie kann man damit seinen Lebensunterhalt verdienen?“ Das Internet sei aber kein Paradies für alle, die sich selbständig machen wollen. „Auch Beratungsdienstleistungen finden zunehmend online statt, so dass sich auch das Betätigungsfeld des Starter-Centers selber rapide wandelt“, so Eva Wobbe.
Andersartige Berufsqualifikationen
Dominik Schad als Leiter des Jobcenters im Kreis Recklinghausen sieht seine Behörde als „Reparaturbetrieb“, der dann aufgesucht werde, wenn beispielsweise Qualifizierung für einen Job nicht mehr ausgereicht habe. Daher müsse bereits vorher angesetzt werden mit einem flexibleren Schulsystem und mit Blick auf die veränderte Arbeitswelt, da 60 Prozent der Betroffenen keine formellen Abschlüsse vorweisen könnten. „Diese verlieren aber in Zukunft an Bedeutung, wo stattdessen die Frage nach Kompetenzen und Fähigkeiten statt Bildung zählt: Was kannst Du?“, so Dominik Schad. Viele herkömmliche Berufe würden nicht mehr gebraucht, Stellen für Helfer mit Billiglöhnen fielen weg und der Anteil an Experten und Fachkräften verschöbe sich.
Arbeitskräfte in sozialen Berufen gefragt
Daran knüpfte auch Michaela Evans vom Gelsenkirchener Institut Arbeit und Technik (IAT) an: „Jeder muss sich künftig flexibel selber managen, wie beim Ehrenamt. Methodische Kompetenzen werden immer wichtiger.“ Vor allem müsse die veränderte Entwicklung in den Branchen beobachtet werden, denn der zukünftige Arbeitskräftebedarf entstehe vor allem für Bildung, Erziehung, Pflege und Betreuung. „Jeder vierte Arbeitsplatz entsteht in der Altenpflege“, betonte Michaela Evans. Mit Blick auf die Digitalisierung ginge es in der Altenpflege darum, die Arbeit mit Menschen durch Technik zu vereinfachen – nicht sie zu ersetzen. Zudem plädierte Evans nachdrücklich für eine bessere betriebliche Gestaltung. Dazu gehöre die genaue Bestandsaufnahme, wo bereits Digitalisierung stattfände und an welcher Stelle die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch mehr mitgenommen und unterstützt werden müssten.
Mitbestimmung unerlässlich
Achim Vanselow, Abteilungsleiter Wirtschafts- und Strukturpolitik beim DGB-Bezirk NRW, mahnte, den Industriestandort nicht zu vernachlässigen und Technik so einzusetzen, dass sie menschliche Arbeit unterstützt und nicht ersetzt. „Hinter jeder Entwicklung stehen Interessen, die von uns gestaltbar sind“. Digitale Technik ermögliche auch Aufstiegsperspektiven und neue Arbeitsplätze. „Es kommt auf die betriebliche Ebene an, mit Beteiligung der Betriebsräte und der Beschäftigten“, so der Gewerkschaftsvertreter, denn Qualifizierung sei nicht nur Aufgabe des Staates, sondern auch der Unternehmen. Der DGB habe deshalb schon 2016 den „Index gute Arbeit“ aufgelegt.
Digitalisierungsprojekte für Bürgerbeteiligung
Ein mit Fördermitteln des Landes NRW ermöglichtes, interessantes Modellprojekt des „Emscher-Lippe-Things-Network“ stellte Dr. Hans Hubbertz, Leiter des Referats Gesellschaftliche Verantwortung beim Evangelischen Kirchenkreis, vor: „Wir bringen ein Sensornetzwerk mit Beteiligungsmöglichkeiten für interessierte Mitwirkende auf den Weg. Wir werden in unserer Region offene Zugänge für das 'Internet der Dinge' bereitstellen, kostengünstig und für alle nutzbar.“ Damit können Bürgerinitiativen, Kommunen oder Privatpersonen z. B. mittels eigener Umweltdaten eigene Interessen und Vorschläge im Bereich spannender Digitalisierungsprojekte umsetzen.
Digitalisierung im Gesundheitswesen
Den Statements schloss sich eine lebhafte Diskussion mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unter der Moderation von Julia Borries, Referentin für Evangelische Erwachsenenbildung im Kirchenkreis Recklinghausen, an. Ein besonderes Interesse richtete sich auf das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen und bei Ärzten. Keine Akzeptanz fanden etwa Pflegeroboter ohne menschliche Empathie, wohl aber die Pflege der Gesundheitsdaten für treffsichere Prognosen zugunsten der Patienten. Dass die hochkarätige Veranstaltung nicht die erhoffte Teilnehmerzahl anlockte, bedauerten die Veranstalter, die aber flexibel statt der geplanten drei Arbeitsgruppen den Workshop kurzerhand zu einer Podiumsdiskussion umfunktionierten. Einigkeit herrschte darin: „Der Prozess ist von Menschen gestaltbar, wenn wir der Entwicklung nicht nur hinterherlaufen.“ (WN)