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Willkommenskultur und Umverteilung gegen Verlustängste - Podiumsdiskussion: Rechtspopulismus markiert gesellschaftliche Bindungsverluste

RECKLINGHAUSEN. Gegen etwas zu sein, erscheint oft leichter, als für etwas zu sein. Einfacher scheint es auch zu sein, wenn man Freund und Feind, oben und unten, Gewinner und Verlierer unterscheidet. Wird dieses vereinfachende Denken dann noch mit dem Gedanken der Leistung verknüpft, werden aus Verlierern schnell Leistungsunwillige oder Schmarotzer.
Willkommenskultur und Umverteilung gegen Verlustängste - Podiumsdiskussion: Rechtspopulismus markiert gesellschaftliche Bindungsverluste

Martin Brambach, Dr. Hans Hubbertz, Dr. Frank Hoffmann, Reiner Hoffmann im Gespräch mit der Moderatorin Andrea Hansen (wdr) (vl.)

Diese Grundhaltung nutzt der aktuelle Rechtspopulismus in Europa mit Erfolg. Seine Vertreter machen Front gegen das etablierte politische Parteiensystem, gegen die Herrschenden „dort oben“ und gegen die EU-Rettungspolitik. Sie nutzen die weit verbreitete Politikverdrossenheit, das Misstrauen gegen die politische Klasse, die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg und vor dem Fremden und Anderen. Doch sie tun dabei nur so, als stünden sie außerhalb dieses Systems: ihre Führungspersonen zählen zu den Gewinnern, sie stammen aus dem etablierten Bürgertum.

Den verschiedenartigen Ausprägungen dieses Phänomens in Europa nachzugehen und mögliche Alternativen aufzuzeigen, beabsichtigten die Teilnehmer an der Podiumsdiskussion „Rechtspopulismus im Alltag“ am 1. Mai 2017 im Festspielhaus der Ruhrfestspiele in Recklinghausen.

Mit der Frage, was man denn dem alltäglichen Eindruck entgegensetzen könne, dass da etwas passiere, wogegen man „gefühlt machtlos“ sei, eröffnete Moderatorin und Journalistin Andrea Hansen die Diskussionsrunde.

Das Gefühl hätten viele, dass es „nicht gerecht zugehe“, bestätigte Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Obwohl die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf fast 32 Millionen gestiegen und die Arbeitslosigkeit seit 1989 halbiert worden sei, hätten viele Menschen Angst vor Kontrollverlust und sozialem Abstieg.

Um Ängste und Überforderungen abzubauen, sei es wichtig, tragfähige Perspektiven zu schaffen und damit Anlässe zu Hoffnung und Freude, stellte Dr. Frank Hoffmann, Intendant der Ruhrfestspiele fest.

Die Willkommenskultur der Kirchen für Flüchtlinge sei exemplarisch für eine markante gesellschaftspolitische Linie gegen die Verlustängste und für die Verteidigung des Wertekanons der europäischen Gemeinschaft, führte Industrie- und Sozialpfarrer Dr. Hans Hubbertz aus. Sie sei ein klares gesellschaftliches Signal gegen einen Rechtspopulismus, der sich als Schutzmacht der kleinen Leute verkaufen wolle.

„Der globalisierte Kapitalismus hat inzwischen Orwellsche Dimensionen erreicht“, behauptete der in Dresden geborene Schauspieler Martin Brambach. Angesichts einer Fülle von Ursachen und großer Komplexität und der Tendenz zu einfachen Antworten in der Mediengesellschaft sehe er eine wichtige Aufgabe darin, Komplexität zu reduzieren und Zusammenhänge zu erklären. Der Philosoph Jürgen Habermas habe beschrieben, dass wir uns in einer „zutiefst unmoralischen Gesellschaft“ befänden, indem wir uns an Gottes Stelle setzten.

„Die drei großen G’s - Globalisierung, Gott und die Gewerkschaften - haben wohl ihre Bindungskraft verloren“, stellte Moderatorin Hansen fest und fragte nach Handlungsalternativen.

„Wir sollten an dieser Stelle die große Taste der politischen Aufklärung drücken“, appellierte Pfarrer Dr. Hubbertz und erklärte: „Wir schieben in dieser Gesellschaft per Gesetz Leute nach Afghanistan ab, obwohl wir wissen, dass diese dort der Tod erwartet. Auf der anderen Seite halten wir die Familie hoch und verhindern Familienzusammenführung per Gesetz.“

„Wir müssen als Gewerkschaft genauer hinhören, was die Mitglieder wollen und auf deren Zeitsouveränität eingehen“, erklärte DGB-Chef Hoffmann. Und auf den Einwurf eines Zuhörers hin: „Heute finden in über 500 Städten DGB-Kundgebungen statt. Und 180.000 Betriebsräte arbeiten Tag für Tag gegen Rechts.“

„Verglichen mit Frankreich ist Deutschland ein Paradies“, behauptete Intendant Dr. Hoffmann. „So eine Verzweiflung dort! So viele Bürger, die nicht mehr ein noch aus wissen!“ Hierzulande könne man sich glücklich schätzen angesichts der Stärke der Gewerkschaften und der politischen Parteien.

„Der Kapitalismus lebt von der Angst vor dem Abstieg“, so Pfarrer Dr. Hubbertz und konstatierte dazu den Verlust gesellschaftlicher Utopie: „Ohne Beteiligung läuft nix. Wir müssen den Hintern hochkriegen!“

Für die Menschen im Osten Deutschlands sei „Links“ auch nicht mehr die Alternative, so Schauspieler Brambach: „In der Schule kommt Antifaschismus vor Antikapitalismus. Die im Westen denken, die Nazis leben im Osten. Die im Osten denken, die Nazis leben im Westen. Wir müssen Alternativen und Utopien aufzeigen! Und wir müssen immer wieder daran erinnern, dass wir die Gewinner der Globalisierung sind. Das ist ein Glück. Es könnte auch anders sein.“

„Auch die Gewerkschaften müssen aus den geschlossenen Räumen raus, in denen wir alle leben“, behauptete DGB-Chef Hoffmann. „Demokratie ist die einzige Staatsform, die wir täglich neu leben müssen, mit den Menschen gemeinsam. Es gibt keine Alternative dazu, ein neues Europa zu denken.“

Nicht jeder Populismus sei schlecht, so Pfarrer Dr. Hubbertz. Wer Komplexität vermitteln könne, sei ein guter Politiker, wenn er damit Beteiligung fördere. Darüber hinaus seien wir „schon dabei, gegen die rückwärtsgewandten Lösungen, die uns verkauft werden, vorzugehen.“

„Wir verweigern aber immer noch Akzeptanz und Anerkennung, auch inhaltlich“, behauptete demgegenüber ein Zuhörer. „In der Regel verweigern wir ein Gespräch mit einem Nazi.“ Eine positive Bildungsarbeit wie auch Politik sei immer noch viel zu selten.

Die Gesprächsrunde fokussierte sich zum Abschluss auf einige wesentliche Aufgabenstellungen, um dem Rechtspopulismus im Alltag zu begegnen. DGB-Chef Hoffmann etwa sah eine wichtige Aufgabe darin, Ängste ernst zu nehmen, das Gespräch zu suchen, Zuzuhören und Akzeptanz zu vermitteln sowie Komplexität zu reduzieren. Den Menschen als Ebenbild Gottes zu sehen, sei elementar, so Pfarrer Dr. Hubbertz. Denn von daher bleibe es die Aufgabe der Menschen, weder verächtlich miteinander umgehen noch der Versuchung nachzugeben, sich von anderen bestimmen zu lassen. „Wer Gewinne macht, gründet seinen Gewinn in der Ausbeutung anderer“, schloss Schauspieler Brambach, der nach wie vor an der Notwendigkeit der „Utopie der Umverteilung“ festhielt.

Bild/Text: GH